Möglichkeiten und Grenzen in der Quartiersentwicklung
Interview mit Dagmar Vogt-Janssen, Landeshauptstadt Hannover, Fachbereich Senioren, stellv. Fachbereichsleitung und Bereichsleiterin Kommunaler Seniorenservice Hannover und
Thorsten Müller, Regionalvorstand der Johanniter in Südniedersachsen.
Das Interview führte Sarah Leuninger, Referentin beim vdw Niedersachsen Bremen
Die Quartiersentwicklung scheint derzeit das Zauberwort und die Lösung der gesellschaftlichen Herausforderungen und Probleme zu sein.
Mit ihr können viele Möglichkeiten in den Quartieren nutzbar gemacht werden. Dennoch stößt auch eine gut strukturierte Quartiersentwicklung an ihre Grenzen. Dort, wo Menschen und Institutionen zusammentreffen und miteinander arbeiten sollen, gibt es immer auch Konflikte und Reibungspunkte.
Was kann Quartiersentwicklung aus Ihrer Sicht bewirken? Was sind die Ziele?
T. Müller: Quartiersentwicklung ermöglicht es den Bewohnern eines Stadtteils, direkten Einfluss auf ihre Lebensbedingungen zu nehmen und diese spürbar zu verbessern. Es werden zu diesem Zweck organisatorische und personelle Rahmenbedingungen geschaffen, damit die Bewohner/-innen im Sinne eines Empowerments ihre Interessen, Fähigkeiten und ehrenamtlichen Ressourcen zum Wohle der Gemeinschaft einbringen können.
D. Vogt-Janssen: Das sehe ich auch so. Die Quartiersentwicklung stellt für die Kommune eine Handlungsebene dar, die kleiner ist als z. B. ein Stadtteil. Auf diese Weise bietet sie die Möglichkeit, durch Projekte und Maßnahmen im sozialen Nahraum bedürfnisgerechte Infrastrukturen mit den Akteuren vor Ort gemeinsam zu entwickeln und in einem abgestimmten Vorgehen umzusetzen.
Frau Vogt-Janssen, Sie sind hier als Ansprechpartnerin der Landeshauptstadt Hannover für das Thema alter(n)sgerechte Quartiersentwicklung. Was macht die Stadt für die Quartiersentwicklung?
D. Vogt-Janssen: Die Landeshauptstadt Hannover ist an vielen Stellen mit dem Thema Quartiersentwicklung befasst.
Zum einen gibt es die Gemeinwesenarbeit mit den Nachbarschaftsinitiativen und den Quartiersmanagern und -managerinnen im Fachbereich Soziales sowie die Quartiersarbeit im Programm Soziale Stadt mit entsprechenden Ansprechpartnern im Quartier.
Dann gibt es das Programm im Bereich Bauplanung und Stadtentwicklung mit dem Titel „Mein Quartier 2030“. Dabei werden Stärken, Schwächen und Potentiale der Stadtbezirke in der Landeshauptstadt Hannover untersucht und daraus Entwicklungsschritte abgeleitet und zur Umsetzung gebracht.
Im Fachbereich Senioren, den ich hier vertrete, haben wir 2013 mit der alter(n)sgerechten Quartiersentwicklung angefangen. An zunächst drei Standorten haben wir begonnen, gemeinsam mit den Akteuren vor Ort Bedarfe und Bedürfnisse aufzunehmen und entsprechend dieser Erhebungen Planungen durchzuführen und Maßnahmen umzusetzen. Die ursprünglichen drei Standorte haben sich mittlerweile verdreifacht und andere Träger arbeiten mit ähnlichen Konzepten und haben ihre Planungen in diese Richtung ausgebaut, z. B. die Wohlfahrtsverbände, AWO, Diakonie und DRK, sowie Wohnungsunternehmen, wie z. B. hanova Gesellschaft für Bauen und Wohnen Hannover mbH, meravis Wohnungsbau- und Immobilien GmbH und Spar- und Bauverein eG, Hannover.
Zusätzlich sind wir seit diesem Jahr damit befasst, stationäre Einrichtungen in das Quartier zu öffnen und in Quartierszentren umzuwandeln.
Das ist ja ein bunter Strauß an Quartiersentwicklungsansätzen. Stößt man als Kommune dabei auch an Grenzen?
D. Vogt-Janssen: Grenzen spüren wir immer da, wo es um die konkrete Zuständigkeit einzelner Bereiche geht. Das gilt sowohl für den Bereich der privaten Betriebe und der Wohlfahrtsverbände als auch in der Kommune selbst. Ich meine damit Sektoren- aber auch Zuständigkeitsgrenzen, die es zu überwinden gilt. Bei der Landeshauptstadt Hannover sind wir Dank des Programms „Mein Hannover 2030“ auf einem guten Weg.
Allerdings werden der Kommune auch durch bestehende Gesetze und Vorschriften immer wieder Grenzen in der Umsetzung von Projekten zur Quartiersentwicklung gesetzt. Außerdem darf der personelle Aufwand, den eine strukturelle Quartiersentwicklung nach sich zieht, bei der ohnehin angespannten finanziellen Lage in vielen Kommunen nicht unterschätzt werden.
Herr Müller, Sie sind im Landesverband der Johanniter in Niedersachsen aktiv. Was passiert bei Ihnen zum Thema Quartiersentwicklung?
T. Müller: Die Johanniter sind an insgesamt 15 Quartiersprojekten in Niedersachsen und Bremen beteiligt, die im groß- wie kleinstädtischen und ländlichen Bereich einen Beitrag zur sozialräumlichen Gestaltung der Stadt- und Ortsteile leisten. Unsere Partner sind die Kommunen, die genossenschaftlichen und kommunalen Wohnungsunternehmen sowie örtliche Vereine und Verbände.
Darüber hinaus nehmen wir ein steigendes Interesse an weiteren Quartiersprojekten bei den Kommunen im Rahmen der integrierten Sozialplanung wahr. Inzwischen sind auch Gemeinden im ländlichen Raum zunehmend an dem Thema interessiert.
Das ist ein umfangreiches Programm. Was ist die größte Schwierigkeit für einen Wohlfahrtsverband wie die Johanniter beim Thema Quartiersentwicklung?
T. Müller: Problematisch ist es, wenn die Zusammenarbeit der beteiligten Personen nicht funktioniert oder sogar Konflikte entstehen. Zwar ist das normal, wenn Menschen zusammenarbeiten, jedoch müssen offene und latente Konflikte in einem Quartiersprojekt frühzeitig erkannt und bearbeitet werden. Dann lassen sich in den meisten Fällen konstruktive Lösungen finden.
Schwierig wird es auch, wenn ein Quartiersentwicklungsprojekt neu initiiert wird und die bereits aktiven sozialen Akteure nicht ausreichend eingebunden wurden oder wenn diese das Projekt als von oben aufoktroyiert empfinden. Gegen die dann entstehenden Abwehrreaktionen ist jedes noch so schöne Quartiersprojekt machtlos. Daher ist es wichtig, von Anfang an transparent mit allen Akteuren in Kontakt zu treten und bestehende Empfindsamkeiten ernst zu nehmen.
Außerdem ist die richtige Auswahl des Quartiersmanagers bzw. der Quartiersmanagerin von besonderer Bedeutung. Neben der fachlichen Eignung sind eine ausgeprägte Sozialkompetenz, Empathie und Teamfähigkeit wichtige Faktoren für den Erfolg einer Quartiersentwicklung.
In Hannover und auch bei den Johannitern beschäftigen sich eine Vielzahl an Menschen mit dem Thema Quartier, besonders auch viele Ehrenamtliche. Was braucht es hier für eine gelungene Quartiersentwicklung?
D. Vogt-Janssen: In der Stadt Hannover ist man gewohnt, mit vielen Ehrenamtlichen zu arbeiten. Im Fachbereich Senioren allein engagieren sich rund 600 Ehrenamtliche. Z. B. hat sich an einem Standort ein Quartiersrat gebildet, der aus ehrenamtlich aktiven Bürgerinnen und Bürgern besteht. Dieser Quartiersrat befindet über die Notwendigkeit von Maßnahmen und Projekten und sorgt dafür, dass neue Projekte über die zuständige Quartierskoordinatorin an die Stadt herangetragen werden.
Die Stadt Hannover nutzt außerdem die Plattform nebenan.de und hat damit guten Erfolg in der Akquise neuer, vor allem jüngerer Ehrenamtsgruppen, die sich an der Quartiersentwicklung beteiligen.
Bei all dem ist es wichtig, dass es eine hauptamtliche Bezugsperson im Quartier gibt. Diese Aufgabe nehmen bei uns Quartierskoordinatoren und Quartierskoordinatorinnen wahr. Das sind in der Regel Sozialarbeiter/-innen, die hauptamtlich bei der Landeshauptstadt beschäftigt oder bei anderen Trägern angestellt sind.
T. Müller: Das sehe ich genauso. Ehrenamt braucht immer auch einen hauptamtlichen Ansprechpartner. Hier geht es insbesondere um die persönliche und unmittelbare Wertschätzung, denn kein Quartiersprojekt funktioniert ohne Ehrenamt. Deshalb müssen alle professionell Beteiligten, die kommunale Verwaltung und die Politik verstehen, dass ehrenamtliches Engagement nichts Selbstverständliches ist, sondern immer wieder unterstützt und gestärkt werden muss.
Braucht es noch mehr Engagement, sowohl hauptamtlich als auch ehrenamtlich? An welchen Stellschrauben sollte man sinnvollerweise drehen?
T. Müller: Engagement kann es eigentlich nie genug geben. Quartiersarbeit findet überall dort statt, wo es engagierte Akteure gibt, die ein entsprechendes Projekt anstoßen. Fehlen diese Personen, kommt auch keine Quartiersarbeit zustande. Somit handelt es sich im Moment nur um einzelne Leuchtturmprojekte. Von einem flächendeckenden Netzwerk an Stadtteilprojekten sind wir insbesondere in Kleinstädten und ländlichen Regionen noch weit entfernt.
D. Vogt-Janssen: Wichtig ist es, dass vor Ort genügend Angebote vorgehalten werden, aus denen Ehrenamtliche auswählen können. Ebenso braucht es ausreichend Möglichkeiten, damit sich Ehrenamtliche fort- und weiterbilden können. Außerdem ist es wichtig, dass Ehrenamtliche auch an den Entscheidungsprozessen teilhaben können.
Selbständig handelnde Ehrenamtliche tragen als Multiplikatoren die Ideen und Projekte ins Quartier und aktivieren und gewinnen auf diese Weise neue Ehrenamtliche.
Diese engagierten Akteure muss man zusammenbringen, denn Quartiersentwicklung lebt von Vernetzung und Kooperation. Wie kann man Akteure von Konzepten überzeugen? Wie bringt man sie an einen Tisch?
T. Müller: Damit Netzwerke funktionieren, müssen sie frühzeitig im Projektverlauf aufgebaut und durch regelmäßigen persönlichen Kontakt gepflegt werden. Optimalerweise werden alle Akteure bereits bei der Projektvorbereitung eingebunden, damit die Ziele und
Inhalte von allen verstanden und mitgetragen werden.
Eine partizipative und demokratische Entscheidungsfindung hilft dabei in einem Netzwerk, das die Quartiersentwicklung unterstützen soll, die gemeinsamen Ziele auch zu erreichen.
D. Vogt-Janssen: Hannover hat den großen Vorteil der 13 stadtbezirklichen Netzwerke, die wir zurzeit mit externer Begleitung stärker für die Quartiersentwicklung in den einzelnen Stadtbezirken ausbauen.
Wichtig für Netzwerke und die Aktivierung der Akteure ist es, dass eine Win-win-Situation hergestellt wird. Nur so können die einzelnen Akteure nachhaltig von Konzepten und Projekten begeistert und von einer Mitwirkung überzeugt werden. Um die Akteure zusammenzubringen, gibt es die unterschiedlichsten Veranstaltungsformate, die zielgruppengerecht ausgewählt werden sollten.
Abschließend eine letzte Frage: Wir schreiben das Jahr 2030. Wo sehen Sie die Quartiersentwicklung?
D. Vogt-Janssen: Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung stehen uns voraussichtlich große strukturelle Umbrüche in vielen Bereichen bevor. Beispielhaft seien genannt: Der medizinisch-technische Fortschritt, der demografische Wandel, Vernetzung vieler Lebensbereiche und die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit fortschreitende Digitalisierung. Innerhalb dieser Entwicklung werden sich die Menschen noch stärker als jetzt schon auf direkte Kontakte und Begegnungen, lokale Angebote und Netzwerke besinnen, die gerade das Quartier und die Quartiersentwicklung anbieten. Das Thema Quartiersentwicklung wird eine noch wichtigere Rolle spielen. Mein Wunsch: 2030 wird der Daseinsvorsorgebegriff neu gefasst sein und Quartiersentwicklung gehört zu den Pflichtaufgaben der Kommunen.
T. Müller: Themen wie Altersarmut, fehlender Wohnraum und Fachkräftemangel v. a. in der Pflege werden bis 2030 die Quartiersentwicklung stark vorantreiben. Insbesondere im ländlichen Raum werden die Quartiersprojekte deutlich ausgeweitet werden, um das Gefälle
zwischen ländlichen Gebieten und den wachsenden Städten auszugleichen.
Unter diesen Vorzeichen ist das Thema Quartiersentwicklung aus meiner Sicht 2030 wichtiger denn je.
Frau Vogt-Janssen, Herr Müller, ich danke Ihnen für das ausführliche Gespräch.
Dagmar Vogt-Janssen
stellv. Fachbereichsleitung und Bereichsleiterin Landeshauptstadt Hannover
Kommunaler Seniorenservice Hannover
Thorsten Müller
Regionalvorstand
Johanniter-Unfall-Hilfe e. V.
Regionalverband Südniedersachsen